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Horst Gauss | |
| Sentimental-Klaus...An einem grau verhangenen Herbsttag stand Klaus auf dem Friedhof und schaute mit tränenfeuchten Augen in das offene Grab. Er wusste gar nicht, wer da in dem Sarg lag, aber er war tief traurig und musste weinen. Es überkam ihn - im wahrsten Sinne - das heulende Elend; er schien beinahe schon untröstlich zu sein. Das kann doch wohl nicht wahr sein, möchte man meinen. Aber es hat sich genau so zugetragen! Danach nahm er die Schaufel, warf zwei Schippen Sand auf den Sarg und schluchzte so erbärmlich, als wäre es für ihn der endgültige Abschied von einem über alles geliebten Menschen. Die mitfühlenden Blicke der Trauergäste, die in diesem Augenblick ausschließlich seiner Person galten, schienen ihm zumindest ein wenig Trost zu geben. Anschließend ging er mit schleppenden Schritten und leicht torkelnd zu den nächsten Angehörigen des Verstorbenen und sprach ihnen unter Tränen sein Beileid aus - für einen Menschen, den er gar nicht gekannt hatte. Er konnte sich kaum noch aufrecht halten, als ginge ihm der Verlust so nahe. Und die trauernde Familie nebst Freunden, Bekannten und Nachbarn nahmen die Anteilnahme und Ergriffenheit des Fremden mit dankbarer Rührung entgegen. Ihnen konnte man die Frage geradezu von der Stirn ablesen: Wer mochte er wohl sein, der über den Tod ihres Verwandten so sehr erschüttert war?! - Denn niemand kannte ihn. Der Pfarrer beendete die Szenerie schließlich ziemlich abrupt und auch etwas unsanft. Er packte den nunmehr von einem Heulkrampf geschüttelten Mann - was von den Trauernden teils empört, teils erstaunt kommentiert wurde - am rechten Arm und rief lautstark, sodass jeder es hören konnte: "Jetzt reicht es aber, Herr Baier! Verlassen Sie sofort den Friedhof! " Er führte ihn wie einen Schwerverbrecher an den Trauergästen vorbei - die das Ganze entweder ungläubig oder verdattert aufnahmen - zum Ausgang und erteilte dem Mann, der am ganzen Leibe zitterte, ein absolutes Friedhofsverbot. Und es klang so energisch, dass es wohl für den Rest seines Lebens gelten sollte! - Anschließend ging der Pfarrer ans Grab zurück und kümmerte sich wieder um die Trauernden. Klaus Baier, auch "Sentimental-Klaus" genannt, schlich wie ein geprügelter Hund von dannen. Er hatte doch niemandem etwas getan - er verstand die Welt nicht mehr! Denn er war ja eigentlich ein angenehmer, ein liebenswerter Mensch - ein richtiger Sympathieträger. Wahrscheinlich war er einfach viel zu gut für diese grausame Welt! Schon als Kind brachte er bei jeder Gelegenheit sein überdurchschnittlich entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden ein - er heulte und kriegte sich gar nicht mehr ein, wenn jemandem ein Unrecht geschah. Er konnte ja nichts dafür, und er konnte auch nichts dagegen tun! Sobald sein Gemüt mit einer Begebenheit belastet wurde, die ihm Kummer bereitete, nahm er sich das so sehr zu Herzen, dass die Tränen nur so über sein Gesicht kullerten. Und je älter er wurde, umso mehr Situationen gab es, die er zum Heulen fand. Man hätte ja meinen können, dass er im Laufe seiner Jahre abgebrühter geworden wäre und nicht mehr ganz so empfindsam und wehleidig reagieren würde. Doch bei ihm verstärkte sich diese Wehleidigkeit und Weichherzigkeit sogar noch. Es wurde immer schlimmer; er heulte immer öfter über die tragischen Schicksale und über all die Ungerechtigkeiten in dieser Welt! Als er in die Schule kam, hatte Klaus dadurch große Schwierigkeiten. Denn immer wenn der Lehrer einen Klassenkameraden bestrafte, ging Klaus das Leid des Mitschülers so unter die Haut, dass er bitterlich zu weinen anfing. Seine Schulkameraden hatten sich natürlich schnell an seine Heulerei gewöhnt, und es dauerte nicht lange, bis die ganze Klasse aus Jux lauthals mitheulte, wenn sich in seinen Augen auch nur ansatzweise Tränenflüssigkeit sammelte. Und er bekam sehr oft feuchte Augen! Die Lehrer fanden dieses Geheule und Gejaule natürlich sehr nervig und ganz und gar unangebracht. Die ganze Klasse wurde dann immer mit einer Kollektivstrafe belegt, was Klaus noch mehr zum Weinen brachte. Er wurde deshalb öfter mal in eine andere Klasse versetzt, aber nach kurzer Zeit ging auch hier das Geheule und Gejaule los, und so schluchzte und weinte sich Klaus durch seine Schulzeit und vergoss viele Tränen während dieser Zeit! Er war nun mal hochsensibel und hypersentimental, und so nannten seine wenigen Freunde ihn eben sinnigerweise "Sentimental-Klaus". "Sentimental-Klaus" hatte es echt schwer im Leben. Denn je älter er wurde, um so öfter fühlte er sich von ärgerlichen oder traurigen Geschehnissen konfrontiert, die seine gutmütige und mitfühlende Seele arg zauselten. Dennoch erreichte es seine Mutter, dass er in einer kleinen Druckerei - einem Dreimann-Betrieb - seine Lehre beginnen konnte. Er brachte es durchaus zu einem passablen Abschluss als Drucker, und er war ja ansonsten auch ein patenter Kerl ... - wenn es nur nicht dauernd dazu gekommen wäre, dass er, oftmals schon aus nichtigem Anlass, zu heulen anfing. Wenn er mit Freunden im Café saß und jemand erzählte, dass er sich gerade von seiner Freundin getrennt hatte, dann bekam "Sentimental-Klaus" sofort diesen seltsamen Blick. Seine Augen wurden wässerig, und gleich darauf konnte er sich der Tränen kaum noch erwehren. Eigentlich konnte ihm das doch egal sein, wenn sich jemand von seiner Freundin getrennt hatte - zumal, wenn es dafür einen triftigen Grund gab. Aber so war er nun mal: seine Emotionen schwappten immer gleich über, sein Herz war viel zu weich - er war eben ein "Gefühlsdussel". Und er war derjenige, der sich schwermütige Gedanken über das schlimme Schicksal dieser verlassenen Freundin machte. Und erzählte jemand, dass seine Katze gestorben sei, dann schlug auch dies "Sentimental- Klaus" so schwer aufs Gemüt, dass er sofort zu heulen anfing. Einige der Leute, die ihn kannten und die es gut mit ihm meinten, legten ihm nahe, zu einem Psychologen zu gehen; andere, die gehässig oder genervt darauf reagierten, ließen ihn kaltschnäuzig wissen, dass jemand wie er in eine Klapsmühle gehörte. Denn es sei doch nicht normal, dass jemand dauernd losheulen würde - zumal über Dinge, die ihn persönlich gar nicht betrafen. Als "Sentimental-Klaus" seine Lehre beendet hatte, war er erst mal arbeitslos. Sein Chef hatte - bedingt durch die vielen Anlässe, bei denen Klaus in Tränen ausbrach -, einige Druckaufträge verloren. Und bei den daraufhin notwendigen Auseinandersetzungen und Schuldzuweisungen weinte Klaus wieder haltlos und hoffnungslos. Der Druckereibesitzer bekam es dann selbst mit Depressionen zu tun, da seinem Betrieb die Kunden fernblieben. Und das wiederum machte Klaus schwer zu schaffen, sodass er die Tränen bald gar nicht mehr aufhalten konnte! Bedingt durch die ständige Seelenpein, der "Sentimental-Klaus" sich selbst aussetzte, war er ein Einzelgänger. Wer wollte schon mit einem befreundet sein, der als "Memme" und als Moralist bezeichnet wurde, der alles und jeden beweinte, und der einem dadurch regelrecht Schuldkomplexe aufzwang. Keiner hatte Lust, sich ständig mit einem schlechten Gewissen zu plagen, nur weil Klaus immerzu von einem Heulkrampf erfasst wurde. Hätte er nicht seine Mutter gehabt, die ihn liebevoll umsorgte, wäre er möglicherweise auf der Straße gelandet. Obwohl: vielleicht hätte er ja als Bettler gute Chancen gehabt, richtig Geld zu verdienen, denn das Heulen auf Kommando kann ja nicht jeder - das muss die Mitmenschen ja auch erst mal bis auf den Nerv treffen! In einer besonders depressiven Phase begab Klaus sich dann endlich in eine Psychotherapie. Aber auch der Psychologe konnte ihm nicht helfen - nach fünf Sitzungen fing auch er an, herumzudrucksen, und er beendete die Behandlung, weil er befürchtete, letztlich auch noch schwermütig zu werden. In einigen Kneipen, in die er ab und zu mal gegangen war, um seinen Kummer zu ersäufen, hatte "Sentimental-Klaus" schon Lokalverbot. Das verstand er nun gar nicht, denn er zeigte doch nun wahrhaftig ein Übermaß an Mitgefühl für seine Umwelt. Doch dann kam die große Wende in seinem Leben! - Bei der Beerdigung eines ihm eigentlich nicht näher bekannten Klassenkameraden war er erstmalig auf einem Friedhof - und auch zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Beerdigung. Da muss ihm wohl eine Erleuchtung gekommen sein: "Das ist meine Welt! " Schon beim Betreten des Friedhofs überkam ihn ein bedrückendes Gefühl, das aber auch so etwas wie Glück für ihn bedeutete: diese behutsame Atmosphäre, diese Einsamkeit, diese Stille, und die vielen Gräber ... - das alles regte seine Fantasie an, da erhielt er frische Inspirationen. Denn unter jedem Grabstein gab es ja ein Schicksal, das er betrauern und beweinen konnte. Als der Pfarrer bei der Andacht die guten Eigenschaften des früheren Mitschülers hervorhob, konnte "Sentimental-Klaus" sich nicht mehr beherrschen. Er weinte so herzergreifend, dass die Trauergäste gar nicht wussten, wie sie ihm helfen sollten, und sie bedauerten ihn mehr als den viel zu früh verstorbenen Toten, der da gerade beerdigt wurde. Das war für Klaus eine neue Erfahrung, dass fremde Menschen ihm gegenüber ihr Mitgefühl zeigten, und sie schienen ihn und seine Niedergeschlagenheit sogar zu verstehen. Er nahm dies mit all seinen Sinnen auf, denn sobald er bei einer anderen Gelegenheit und an einem anderen Ort weinte, wurde er verspottet oder für nicht ganz zurechnungsfähig erklärt. Doch hier auf dem Friedhof konnte er mit Sympathiebezeugungen und Verständnis rechnen. Und überhaupt: Diese bedeckte Stimmung auf dem Friedhof entsprach so ganz und gar seinem Gemütszustand. "Sentimental-Klaus" fühlte sich, als er nach dieser Beerdigung nach Hause kam, wie neu geboren. Fortan zog es ihn immer öfter auf den Friedhof. Hier schien er seinen Seelenfrieden zu finden; hier begegnete man ihm mit Anteilnahme und Interesse, und meist mit milde gestimmtem Mitleid. Auf dem Friedhof fand er fortan das Ventil für sein Seelenheil. Denn hier gab es so viele traurige Schicksale an einer Stelle, dass er seinen Tränen freien Lauf lassen konnte, wenn er von Grab zu Grab ging, wo alle die Verstorbenen endlich ihren Frieden und ihre Ruhestätte gefunden hatten. Bei dieser komprimierten Traurigkeit und Trübseligkeit, der er sich auf dem Friedhof hingeben konnte, passierte natürlich folgendes: "Sentimental-Klaus" vollzog in seinem "normalen" Leben einen Sinneswandel und war im Umgang mit den Leuten aus seinem Umfeld nun nicht mehr ganz so rührselig, und er weinte auch viel weniger. Denn dies konnte er ja nun zur Genüge auf dem Friedhof tun. Die Leute, die ihn kannten, wunderten sich über ihn, nahmen seine optimistische, fast schon positiv ausgerichtete Haltung wahr. Und "Sentimental-Klaus", der ja von Grund auf ein gutartiger Mensch war, wurde fast schon als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft betrachtet. Plötzlich verhielten sie sich nicht mehr ablehnend ihm gegenüber, manche buhlten sogar um seine Freundschaft. Denn nun konnten sie mit ihm ja mal ein Bier trinken gehen, ohne dass er gleich in Tränen ausbrach und Aufsehen erregte, wenn man ihm etwas Unangenehmes erzählte. "Sentimental-Klaus" kam fortan jeden Morgen im schwarzen Anzug in sein Stammcafé. Er breitete zwar die Zeitung vor sich aus, las aber nur die Todesanzeigen. Diese schnitt er dann sorgfältig aus und steckte sie sich in die Brusttasche seines Jacketts. "Was soll denn das nun wieder? ", fragten sich seine neuen Freunde, aber "Sentimental-Klaus" klärte sie darüber nicht auf. Immer öfter schaute er mit verklärtem Blick seine Mitmenschen und sein nahes Umfeld an, und es schien so, als würde er sich auf etwas freuen. Nun ja, die Erklärung ist einfach: "Sentimental-Klaus" hatte seine Profession gefunden: Er ging nun täglich auf drei, manchmal vier Beerdigungen - egal, wer den Löffel abgegeben hatte. Er kannte keinen der Verstorbenen, aber das war ja für ihn auch gar nicht so wichtig. Ihm ging es nur darum, dass er weinen konnte. Und ihn interessierte auch nicht die anschließende Totenfeier. Das hätte er für pietätlos gehalten, da ging er niemals hin. Sein Ding war es, Mitgefühl zu zeigen - dafür musste er sich seiner Tränen nicht schämen. Außerdem konnte er ja, bevor die jeweilige Trauerfeier begann, auf dem Friedhof all die Gräber besuchen, um sich dort seinen gefühlvollen Gedanken hinzugeben - das war für ihn der erste Akt des "Trauer-Höhepunkts. Das war für ihn wahrscheinlich so entspannend, wie es für andere ein gutes Gespräch oder eine lustige Knobelrunde war. Sobald die Trauergäste eintrafen, um in der Totenhalle des Verstorbenen zu gedenken, setzte sich "Sentimental-Klaus" stets in die zweite Reihe, direkt hinter die engsten Angehörigen. Und meist waren sie sehr angetan von ihm, da er sein Mitleid so offenherzig zeigte und dabei so herzzerreißend schluchzte, obwohl er für sie ein Unbekannter war. Und oftmals war er es, der von ihnen getröstet wurde, weil er so unglücklich wirkte. Das war dann sein zweiter Trauer-Höhepunkt. Klaus Baier empfand es als sehr angenehm, dass ihn dort niemand kannte - hier hatte er sozusagen einen "Freischein". Denn wer würde sich erdreisten, einem so tief trauernden Menschen seinen Respekt zu verweigern. Begaben sich die Trauernden dann zur Grabstelle, ging "Sentimental-Klaus" direkt hinter den Angehörigen. Meist weinte er so intensiv und laut, dass sie sich wunderten, weil sie ihn noch nie in Gesellschaft des Verstorbenen gesehen hatten. Denn seiner Trauer nach müsste er ja wohl ein sehr guter Freund von ihm gewesen sein. Und so nahmen sie ihn in ihrer Mitte auf. Ein absoluter "Trauer-Höhepunkt" - geradezu ein "Trauerglück" - war es für ihn, wenn er alleine ans Grab treten konnte. Dann stand er im Mittelpunkt des Interesses, und er wusste, dass jetzt alle Augen auf ihn gerichtet waren. Wenn er nämlich das Schäufelchen Erde auf den Sarg des Toten schütten und dabei echte Tränen vergießen konnte, dann war das für ihn das pure, das wahre Glück! Und anschließend durfte er den Angehörigen sein tief empfundenes Beileid ausdrücken - und das meinte er auch so, denn diese Menschen mussten ja wirklich mit dem Schlimmsten fertig werden, mit einem unwiederbringlichen Verlust. Das konnte er nämlich perfekt, mit tränenerstickter Stimme und salbungsvollen Worten: Dass der Verstorbene ja so ein feiner Mensch gewesen sei, und er wüsste gar nicht, wie er seinen Tod verkraften sollte. Kaum war die eine Beerdigung beendet, eilte "Sentimental-Klaus" zum nächsten Friedhof. Denn er musste ja aufpassen, dass er nicht auffiel - wenn er zum Beispiel beim selben Pfarrer auf dem selben Friedhof sein "Trauerspiel" vollführte. Normalerweise verkraftete "Sentimental-Klaus" drei Beerdigungen am Tag, manchmal auch vier. Aber dann war er so ausgelaugt und so deprimiert, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und halbtot in Bett fiel. Eigentlich hätte Klaus ja nun mit seinem Leben zufrieden sein können. Er hatte, was er brauchte: seinen regelmäßigen "Trauerfall"! Doch sein Glück war nicht von Dauer! Denn bei den einzelnen Friedhofsverwaltungen und bei den jeweiligen Pfarrern hatte sich das "perverse Treiben des Friedhofssüchtigen" herumgesprochen. Die Pfarrer erblickten "Sentimental-Klaus" immer öfter unter den Trauernden, und da nutzte es ihm auch nichts, dass er seine Kleidung und seine Kopfbedeckung wechselte. Die Pfarrer beobachten ihn mit Argwohn, und spätestens wenn sein unüberhörbares, unvergleichliches Geheule und Gewimmer auf dem Friedhof zu hören war, wussten sie, dass "Sentimental-Klaus" wieder sein Unwesen trieb. Immerhin hatte er es nunmehr zum Schrecken der Friedhöfe gebracht - bis zu jenem grau verhangenen, verhängnisvollen Herbsttag, als ihm das absolute Friedhofsverbot seitens eines resoluten Pfarrers erteilt wurde. |
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