Horst Gauss

Wild-West im Südbahnhof von Sachsenhausen !

So lautete seinerzeit die Überschrift einer Frankfurter Zeitung zur ersten Boxveranstaltung des CSC im Südbahnhof. Fürwahr, was sich damals am 25.11.1965 im Südbahnhof abspielte war mehr als bühnenreif. Der CSC, gerade ein Jahr alt, wollte sich natürlich mit seiner neu gebildeten Mannschaft dem Sachsenhäuser Publikum präsentieren und dem damaligem CSC-Macher Michael Petrescu war es auch gelungen, mit dem großen Wartesaal des Südbahnhofs eine Veranstaltungsstätte zu finden. Hätte der Wirt vorher gewusst, was auf ihn zukommen würde, er hätte sicherlich nie sein „o.k.“ für diese Wild-West-Show gegeben. Schuld daran war eigentlich Sachsenhausens damaliger „Böser Bub“ Reiner Nees. Reiner, mit Horst Gauß befreundet, wog zwar nur knappe 60 Kilo, aber er war in ganz Frankfurt ein gefürchteter Schläger, der vor niemandem Angst hatte und dem diesbezüglich ein guter Ruf voraus eilte. Nun, Reiner wollte es auch mal unbedingt im Ring probieren und lernte auch bei Horst Gauß das Boxhandwerk. Als er von der Veranstaltung im Südbahnhof hörte, war es überhaupt keine Frage, dass er unbedingt boxen wollte. Es sollte sein erster Kampf sein. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in Sachsenhausen, dass Reiner boxen würde und so kam es, dass am Kampfabend der Südbahnhof mit Nees-Anhängern voll war. Natürlich waren da auch einige Jungs der übelsten Sorte dabei, volltrunken wankten sie durch den Wartesaal und machten dem Leitspruch, der mit großen Buchstaben über die ganze Wand gezeichnet war „Durst wird durch Bier erst schön“ alle Ehre. Es war schlimm. 300 Zuschauer in dem viel zu kleinen Saal, sie wollten ihren Reiner sehen. An der Kasse saß ein schmächtiges Bürschlein mit dem sinnigen Namen Günter Nimmit, das seinem Namen alle Ehre machte, denn die Kasse war später mit den gesamten Einnahmen verschwunden und Horst Gauß, damals noch Student, musste tief in die Tasche greifen um Kampfgericht und Boxer bezahlen zu können. Da nicht genügend Sitzplätze vorhanden waren, lehnten sich die Zuschauer in Zweierreihen mit Biergläsern über den Ring. Der Delegierte wollte die Veranstaltung platzen lassen, nicht nur wegen der unmöglichen Atmosphäre, nein, es fehlte auch die Waage und der Ringarzt, den Michael Petrescu ganz vergessen hatte. Außerdem waren nur ungefähr zehn Boxer da, so dass gar keine Veranstaltung zustande gekommen wäre. Auch gab es keinen Umkleideraum, lediglich einen durch einen Vorhang abgeteilten Duschraum. Doch die Zuschauer brüllten in Chören „Reiner, Reiner, Reiner“! Es war schlimm. An der Kasse gab es eine Schlägerei, wahrscheinlich der Anlass für Günter Nimmit, die Kasse mitzunehmen. Auf jeden Fall wurde Günter Nimmit nie wieder gesehen und die Kasse natürlich auch nicht. 20.00 Uhr sollte die Veranstaltung beginnen, zwischenzeitlich war es 21.00 Uhr, einen Ringarzt hatte man telefonisch auftreiben können, doch als dieser die Halle betrat, war er, der Ärmste wusste ja vorher nichts von seinem Glück, sterngranatenvoll, er wusste ja nichts von seinem Einsatz an diesem Abend. Zuerst riss er erst mal dem nächstbesten Zuschauer das halbvolle Bierglas aus der Hand, dann packte er seine Arzttasche aus, die einen entsetzlichen Anblick bot. Blutverschmierte Pflaster lagen neben Mullbinden und schmutzigen Handtüchern. Doch zunächst wurden die Gewichte der Boxer geschätzt, da einfach keine Waage aufzutreiben war und dabei kam es fast wieder zu einer Schlägerei, denn jeder Vereinsfunktionär machte es

seinen Boxer natürlich so leicht wie möglich. Zu guter letzt standen sechs Paarungen, nachdem Horst Gauß 70 Kilo schwer, einen 81 Kilo-Mann, nämlich den Offenbacher Baudisch akzeptiert hatte und auch noch ein Junge namens Brand, der erst zweimal eine Sportschule von innen gesehen hatte, sich zu einem Boxkampf bereit erklärt hatte. Die Zuschauer fingen jetzt fürchterlich an zu pfeifen, denn es war fas 21.30 Uhr und sie alle wollten endlich ihren Reiner sehen. Rauchverbot war natürlich auch nicht angesagt, so dass man vor lauter Rauchschwaden kaum noch die Ringbeleuchtung sah.

Die ärztliche Untersuchung war der größte Witz aller Zeiten. In Anbetracht der Zeitnot nahm der seltsame Medizinmann jeden Boxer beiseite, riss ihm den Mund auf, schaute nach seinen Zähnen und gab dann sein Urteil ab, das lautete einhellig „gesund, boxtauglich“! Einige Boxer ließ er so passieren, „du bis sowieso gesund“! Zwischendurch klaute er wieder einem Zuschauer ein halbvolles Glas Bier, nur so konnte er seine fachmännische Untersuchung weiterführen. Waren zunächst 300 Zuschauer in der Halle, so waren es jetzt, nach Verschwinden des Kassierers, fast 500, die brüllend und saufend aneinander klebten. Zum Schluss kamen noch die beiden Sachsenhäuser Edelpenner Fuzzi und Beulekarl in die Halle, die ja bei diesem bunten Treiben nicht fehlen durften. Dann ging alles sehr schnell. Die ersten vier Kämpfe waren alle in der ersten Runde zu Ende, auch der sich opfernde Brand hatte schon in der ersten Runde die Segel gestrichen und eingesehen, dass es für ihn wohl besser wäre, wenn er erst mal trainieren würde. Da die Kämpfe immer in der ersten Runde vorbei waren, mussten längere Pausen eingelegt werden, schließlich waren nur zwei paar Handschuhe und nur drei Tiefschützer vorhanden und das dauerte jedes Mal ein Weilchen, bis der fliegende Wechsel vollzogen war. Endlich kam Reiner Nees. Die Halle brodelte. Die Sprechchöre überschlugen sich und sein Gegner konnte einem schon jetzt leid tun. Es war Pasquale Russo von den Offenbacher Kickers, der zwar einen Kopf kleiner als Reiner war, aber, und das muss man gerechterweise sagen, Russo hatte schon zehn Kämpfe, während Reiner seinen ersten bestritt. Zunächst fing auch alles gut an. Reiner schlug ganz gut mit, bei jeder linken Geraden, die er schlug, brüllte die ganze Halle als gelte es, den kleinen Russo zu schlachten. Doch in der zweiten Runde wurde es für Reiner eng. Kondition hatte er keine, seine Fights auf der Straße dauerten ja nie länger als ein paar Minuten, doch hier ging das nicht so schnell. Also wurde die alte Masche angewandt, „Dänemann“ (Kopf voraus) und Knie hoch. Der kleine Russo wusste nicht wie ihm geschah, zumal der Ringrichter auch keine Verwarnung aussprach, bei jeder Ermahnung an Reiner Nees wurde er aufs Übelste beschimpft, ja, ein Zuschauer schüttete ihm sogar ein Bier über seine Kleidung. Jetzt wollte der Ringrichter die Veranstaltung abbrechen und da kam ihm der nächste Kopfstoß von Reiner Nees gerade zur rechten Zeit. Russo hatte einen klitzekleinen Riss über der rechten Augenbraue und der Ringrichter schickte ihn in die Ecke und forderte den Ringarzt an. Doch dieser, zwischenzeitlich jenseits von gut und böse, schaffte es einfach nicht, seinen unförmigen Körper die Ringtreppe hoch zu bewegen. Halb oben, taumelte er wieder rückwärts und musste von zwei Zuschauern abgestützt werden. Endlich stand er oben, wie eine deutsche Eiche, bewundert von den Zuschauern, die jetzt lautstark den Abbruch zu Gunsten von Reiner Nees forderten. Doch der Ringarzt sah sich die Wunde an, die war so klein, dass er nicht abbrechen wollte. Stattdessen fummelte er in seiner Tasche herum und holte eines von den gebrauchten, blutverschmierten Pflastern heraus, um damit Russo zu behandeln. Da wurde es dem CSC-Vorsitzenden Herbert Wolf zu bunt. „Mensch, mach dass du da oben runter kommst, du besoffener Kerl“! Herbert zog den betroffenen „Doktor Seltsam“ am rechten Arm die Ringtreppe herunter und fiel mit ihm mitten in die Zuschauer. Das Gelächter und das Gejohle nahm kein Ende. Die Pressevertreter, für die natürlich kein Platz reserviert worden war, dachten sich ihren Teil. Dementsprechend war am nächsten Tag die Kritik. Der Kampf ging also weiter. In der dritten Runde war Reiner am Ende. Russo führte klar nach Punkten. Reiner musste sich also etwas einfallen lassen. Und das tat er dann auch. Wieder im Nahkampf zog er das rechte Knie hoch und die Zuschauer trauten ihren Augen nicht, den wesentlich kleineren Russo hatte es hoch gehoben, er lag waagerecht auf Reiners Knie. Dieses Bild blieb unvergessen und noch heute erzählen sich alte Boxfans, die damals dabei waren, von diesem Husarenstreich. Reiner hatte bereits zwei Verwarnungen, das hinderte ihn jedoch nicht daran, weiterhin lustig Dänemänner und Rundschläge auszuteilen. Er überstand die Runde. Doch als Russo zum Punktsieger erklärt wurde, da glich der Südbahnhof einem Hexenkessel. Jetzt flogen die Biergläser massenweise in den Ring und der Ringrichter kauerte im Duschraum in einer Ecke. Als Horst Gauß zum Schlusskampf den Ring betrat, musste der Ringboden erst einmal gesäubert werden. Doch dann kam zum Abschluss ein Bomben-Kampf, denn Horst Gauß punktete den überschweren Baudisch klar aus, erhielt viel Beifall, eroberte die Herzen der Zuschauer und sollte fortan Sachsenhausens Lokalmatador werden.